Mario Urlaß - Die Kunst der künstlerischen Projekte

Der folgenden Artikel bezieht sich auf folgende Aufgaben aus dem Seminar: 

(a) Welche Grundsätze der künstlerischen Kunstpädagogik lassen sich aus den theoretischen Text-Passagen ableiten?

(b) Wie lassen sich die Unterrichtsbeispiele auf die Theoriegrundsätze beziehen?

(c) Gibt es Strukturen in den beschriebenen Unterrichtsbeispielen, die sich auf Musikunterricht übertragen lassen?

Mario Urlaß, Künstler und Professor für Kunstpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg hat selbst einige künstlerische Projekte an Grundschulen durchgeführt. Eindrucksvolle Prozessdokumentationen dieser findet man auf seiner Homepage:

https://www.mario-urlass.de/lehre/schulprojekte/

Start seines Projekts „Sonnenblumen“ an einer Heidelberger 3. Klasse war zunächst die Verdeutlichung der Sinnlosigkeit dekorativer und uniformer Aufgaben im Kunstunterricht. Er erklärt, dass Sonnenblumen ein häufiges Standardthema in der Grundschule sind. Dieses steht exemplarisch für eine kunstpädagogische Praxis, die komplexe Sachverhalte verkürzt und fragmentiert. Das Nachmalen oder Basteln von Sonnenblumen ist lediglich eine formale Einübung bestimmter Merkmale. Urlaß beschreibt es als oberflächlich und operationalisiert. Es können keine Bildungschancen entstehen mit denen Schüler:innen sich auseinandersetzen können. Kinder haben keine Möglichkeit sich frei mit den Themen zu beschäftigen und ihre eigenen Andockungsmöglichkeiten zu entfalten. Urlaß spricht sogar von „Nivellierung und Gleichmaß, eine In- und Output-Pädagogik, die die Entscheidungen der Kinder radikal beschneidet“ (vgl. Urlaß, 2009, S. 337). Im vorangegangen Blog Eintrag thematisierte ich die Geschichte der Kunstpädagogik. Derartige formalisierte Aufgabe waren häufig im formalen Kunstunterricht der 1960er zu finden. Ausgehend von diesem Problem stellte Mario Urlaß sich die Frage wie es „gelingen kann, Schüler:innen in grundsätzlich experimentelle-offene Lernsituationen zu führen, die sie schließlich selbst organisieren und strukturieren, um hierdurch zu eigenen Strategien und Methodenfindungen und zu einer eigenen künstlerischen Auseinandersetzung zu gelangen“ (Urlaß , 2009, S. 335).

Urlaß ist Vertreter der künstlerischen Bildung. Er selbst bestätigt, dass diese seit einigen Jahren in der Kunstpädagogik als spezifische Lehr- und Lernform favorisiert wird. Im Mittelpunkt steht das Subjekt mit seiner eigenen Art und der Fähigkeit sich selbst und die Welt zu konstruieren. Künstlerische Bildung versteht sich selbst als einen künstlerischen Prozess (vgl. ebd., S. 335; vgl. Buschkühle, 2003, S. 19 ff.). 

 

Ziel einer künstlerischen Bildung des Subjekts ist die Bildung und Erziehung zum Künstler: zu einem Subjekt, welches aufgrund seiner geistigen Beweglichkeit in der Lage ist, sich selbst und sein Leben selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestalten (ebd., S. 36).

 

In Anlehnung an Jospeh Beuys „erweiterten Kunstbegriff“, der künstlerische Prozesse aus seiner Nischenexistenz rausholte und versuchte mit dem Leben und dem Gestalten jedes Menschen zu verbinden, vertraut die daraus resultierende künstlerische Bildung auf die Kraft der selbstbildenden Prozesse, die den Menschen innewohnen (vgl. ebd., S. 37 f.).

 

Zurück zu den Sonnenblumen: Kinder, die Sonnenblumen nachbasteln sind eigentlich keine Künstler:innen. Sonnenblumen als Objekt bieten vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung damit, einfaches Nachbasteln ignoriert die Potentiale dessen. Anhand des Projekts Sonnenblumen zeigt Urlaß, dass Kinder sich selbst mit Themen spielerisch-experimentell und forschend beschäftigen können. So entstehen eigene Wege, eigene Bezugspunkte und am Ende sehr unterschiedliche Ergebnisse. Es geht dann nicht mehr um die Einübung bestimmter Fähigkeiten, Kompetenzen und um das Erlangen von Wissen. Sondern darum, sich selbst mit dem was einen Umgibt in Bezug setzen zu können. Der zentrale Bildungswert der künstlerischen Bildung ist somit die Positionierungsfähigkeit des Individuums. Positionierungsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit zu differenzierten Wahrnehmunsgleistungen, zu selbstständigen Bedeutungserzeugungen und zu imaginativem, visionärem Denken. Die Relevanz dieser Eigenschaften erstreckt sich auf wesentliche Fähigkeiten der Lebenspraxis (vgl. ebd., S. 36).

Als weiteres sehr interessantes Projekt von Mario Urlaß ist „Transformationen im Arbeitsspeicher“ zu nennen. In diesem künstlerischen Projekt erkundete er den Dachboden der Schule gemeinsam mit den Schüler:innen einer 3. Klasse. Gemäß der klassischen Struktur eines künstlerischen Projekts erfolgte der erste Kontakt mit dem Thema induktiv: Die Kinder sollten eigene Bilder und Funde ihres Dachbodens oder Kellers mitbringen. Damit konnten sich die Schüler:innen zunächst imaginativ und rekonstruierend mit dem Thema auseinandersetzen. Einige Kinder malten die Funde oder sortierten sie (vgl. Urlaß, 2012, S. 1 ff.). Der nächste Schritt war eine „Ortssondierung“ des Schuldachbodens. Auf einem alten Dachboden lässt sich Erfahrungsgemäß sehr viel entdecken. So fanden die Schüler:innen Inschriften, seltsame Objekte, aber auch Relikte der Vergangenheit. So entdeckten die Schüler:innen ein altes Schild aus DDR Zeiten – Daraufhin wurde der Wunsch deutlich, dass sie sich gerne mit der Geschichte der DDR auseinandersetzen würden (vgl. ebd., S. 8). Es entstand eine "Vitrine der vergangenen Dinge" und einige setzen sich direkt mit der Mauer zwischen damaliger DDR und BRD auseinander und bauten eine „gerechte Staatsgrenze“ (vgl. ebd., S. 23, 29). Aus Fundstücken wurden auch andere Objekte gebaut, daran anschließend konnten auch Künstler:innen, wie zum Beispiel Beuys oder Anne und Patrick Poirier vorgestellt und mit den Werken der Kinder verknüpft werden (vgl. ebd., S. 18 f.). 

Anhand der kurz angerissen Themenvielfalt wird die Herausforderung an künstlerische Projekte und an die durchführenden Personen deutlich. 

Urlaß fasst es zusammen als Projekte, „die pendeln:

  •      zwischen initiierten und selbst verantwortetem Lernen; 
  •       zwischen Öffnung und Steuerung;
  •       zwischen Wirklichkeit und Imagination;
  •       zwischen lockerem und strengem Denken (vgl. Bateson, 1996);
  •      zwischen fachlichen und personalen Ansprüchen (Urlaß, 2009, S. 336)".

Künstlerische Projekte gehen immer ein Stückweit ins Ungewisse. Der individuelle künstlerische Prozess ist unvorhersehbar. Er orientiert sich an Ressourcen und Bedürfnissen der Lernenden. Die Lehrperson fungiert als stille:r Teilhaber:in, der:die  zwar das Ganze im Blick hat, sich aber trotzdem nicht zu sehr einmischt (vgl. Urlaß, 2013, S. 25 f.). Bei sensiblen Themen, wie in etwa Geschichtsaufarbeitung ist es nötig, dass die Lehrperson das Wissen und auch das nötige Feingefühl für die Bearbeitung der Themen aufweist. Außerdem muss eine Lehrperson gleichzeitig in der Lage sein, Schüler:innen einen eigenen Weg finden zu lassen, aber auch zu merken, wenn sie Unterstützung brauchen. Erst diese „Unbestimmtheitsstellen“ als pädagogisches Regulativ lassen Raum für selbsttätige und selbstbestimmte Bildung (vgl. vgl. Urlaß, 2007, S. 2).

 

Unvorhergesehenes erweist sich als konstitutives Element künstlerischer Denk- und Handlungsprozesse, Unvorhersehbares determiniert das Künstlerische selbst wesentlich. Ein auf künstlerische Bildung ausgerichteter Unterricht muss sich auf Unvorhersehbares absichtsvoll einlassen, wenn Schülerinnen und Schüler zur Arbeit mit Unklarheiten, zur Selbstorganisation und Strukturierung von Lernsituationen, zu eigenen künstlerischen Aussagen befähigt werden sollen. Dies bedeutet, Unvorhersehbares in kunstpädagogischen Situationen zu provozieren, indem Ausgangsszenarien geschaffen werden, die einen offenen Einstieg ermöglichen, Triebkraft für Imaginationen sind und eine Vielfalt individueller Gestaltungswege vorantreiben. Es bedeutet, dass der Lehrer die der Kunst eigenen Bildungspotentiale anerkennt und bei den Schülern Entscheidungen befördert und zulässt, die sich seinerseits einer Vorhersehbarkeit, einem Zugriff entziehen (Urlaß, 2007, S. 2).

 

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass künstlerische Bildung in der Schule eine möglichst selbsttätige, selbstverantwortliche Aneignung der Welt anstrebt. Diese Art von freien Projekten sind keine spezifische Lernform der Institution Schule. Nicht nur Künstler:innen sondern auch WIssenschaftler:innen, Handwerker:innen und auch Student:innen arbeiten auf diese Weise. Diese Form des Arbeitens muss jedoch zunächst gelernt werden, weshalb sie im Bildungszusammenhang als strukturiertes künstlerisches Projekt eingeführt werden sollte. Es ist erforderlich, dass Schüler:innen erlernen, wie bildungsrelevante Themen, Strukturen und Methoden eines künstlerischen Projekts selbstverantwortlich erarbeitet und durchgeführt werden. Die Lehrperson hat in diesem Zuge die Rolle Strukturen zu setzten, Impulse zu geben und Aufgaben zu verteilen (vgl. Buschkühle, 2017, S. 300 f.).

 

Eine 1-1 Übertragung der künstlerischen Bildung , wie sie Mario Urlaß betreibt, in den Musikunterricht halte ich für wenig sinnvoll. Dennoch gibt es einige strukturelle Elemente, die im Musikunterricht durchaus fruchtbar werden können. Die Voraussetzung dafür scheint zu sein, sich von einem "traditionellen" musikpädagogischen Verständnis zu lösen, nach dem erst, wenn jemand wirklich gut ein Instrument spielen kann, er oder sie auch von sich behaupten kann Musik zu komponieren oder produzieren. Gerade in einer Zeit von "Bedroom-Producers", also Personen, die professionelle Musik zu Hause in ihrem Schlafzimmer produzieren (meistens handelt es sich um Personen, die sich das Produzieren von Musik selbstbeigebracht haben), sollte diese Erkenntnis in der Musikpädagogik angekommen sein. Auch in der Musik kann also der erweiterte Kunstbegriff angewendet werden, nachdem Lernende auch musikalische Produkte schaffen können (vgl. (Buschkühle, 2003, S. 20 f.). Zunächst benötigt die Lehrperson eine Offenheit, sich auf den gemeinsamen Prozess mit den Lernenden einzulassen, dies bedeutet einen Raum zu schaffen in dem Schüler:innen Experimentieren und Forschen können. Der Musikpädagoge Hans Schneider hat sich in Bezug auf künstlerische und experimentelle Musizieraktionen einige Gedanken gemacht, worauf ich in diesem Artikel weiterführend eingehe. Weitere strukturelle Elemente, welche sich von der künstlerischen Bildung auf Musikunterricht übertragen lassen, sind die Sinnlichkeit und Kontextualität (vgl. ebd., S. 20). Dazu gehört einerseits nach das individuelle, sinnliche Erleben von Musik. Das kann zum Beispiel durch Zuhören oder in ästhetischen Transformationsprozessen stattfinden und reflektiert werden. Musikunterricht fördert so, wie die künstlerische Bildung, Selbstständigkeit und die Verantwortung die ihre Werke (vgl. Buschkühle, 2017, S. 256, 289 f.). Musik gibt, ebenso wie Kunst, auch Kontexte vor: So könnte man anhand von Billie EIlish neuen Song "My Future" Bezüge zur Klimakrise herstellen, oder auch traditionelle Volksmusik thematisieren und analysieren in welchem musikalisch-historischen Zusammenhang sie stehen (ein bekanntes Beispiel hierfür ist "Bella Ciao"). Im Sinne einer weiterführenden Imagination können diese Inhalte künstlerisch-musikalisch (interdisziplinär) weiterbearbeitet werden. 

Literatur und Bilder

Buschkühle, C.-P. (2003). Konturen künstlerischer Bildung: Zur Einleitung. In C.-P. Buschkühle (Hrsg.), Perspektiven künstlerischer Bildung (S. 19-44). Köln: Salon- Verlag.

 

Urlaß, M. (2007). Mobilisierung des Künstlerischen für 55 Cent. In K.-P. Busse & K.-J. Pazzini (Hrsg.), (Un)vorhersehbares Lernen: Kunst-Kultur-Bild (S. 1-24). Dortmund.

 

Urlaß, M. (2009). Pendeln und Bündeln: Potentiale künstlerischer Bildung in der Grundschule. In C.-P. Buschkühle, J. Kettel & M. Urlaß (Hrsg.), Horizonte: Internationale Kunstpädagogik Beiträge zum Internationalen InSEA-Kongress »horizons/horizonte insea2007germany« (S. 1-34). Oberhausen.

 

Urlaß, M. (2012). Transformationen im Arbeitsspeicher: Künstlerische Projektarbeit in der Grundschule. In A. Brenne, A. Sabisch & A. Schnurr (Hrsg.), revisit: Kunstpädagogische Handlungsfelder. #teilhaben #kooperieren #transformieren (S. 1-35). München.

 

Bildquellen:
Sonnenblume: Urlaß, M. (2009).  Pendeln und Bündeln. Potentiale künstlerischer Bildung in der Grundschule. In: Buschkühle C.-P./ Kettel J./Urlaß, M.(Hrgs.), Horizonte. Internationale Kunstpädagogik Beiträge zum Internationalen InSEA-Kongress »horizons/horizonte – insea2007germany« (S. 2). Oberhausen.

 

Dachboden 1: Urlaß, M. (2012). Transformationen im Arbeitsspeicher: Künstlerische Projektarbeit in der Grundschule. In A. Brenne, A. Sabisch & A. Schnurr (Hrsg.), revisit: Kunstpädagogische Handlungsfelder. #teilhaben #kooperieren #transformieren (S. 30). München.

 

Dachboden 2: Urlaß, M. (2012). Transformationen im Arbeitsspeicher: Künstlerische Projektarbeit in der Grundschule. In A. Brenne, A. Sabisch & A. Schnurr (Hrsg.), revisit: Kunstpädagogische Handlungsfelder. #teilhaben #kooperieren #transformieren (S. 35). München.