Paradigmenwechsel in der Kunstpädagogik? – Eine kleine Geschichte der künstlerischen Kunstpädagogik

Der folgende Artikel folgte aus der Auseinandersetzung mit der Frage, was die Eckpfeiler der künstlerischen Kunstpädagogik sind. Ich verarbeite die Erkenntnisse aus meinem ersten Semestern in dem Zusatzfach "Ästhetische Bildung" an der PH Heidelberg und meiner eigenen Bachelorarbeit. Ich beziehe mich im Folgenden unter Anderem auf Buschkühle, Gunter Otto und auf Erkenntnisse aus Kunstgeschichte-Vorlesungen mit der Dozentin Susanne Bauernschmitt. 

 

Im Laufe der Geschichte der Kunstpädagogik lässt sich von einem Paradigmenwechsel in der Didaktik der Kunstpädagogik sprechen. Abhängig davon ist das zeitspezifische Verständnis von Kunst und ihren Funktionen, sowie ihr Nutzen für Bildung und Erziehung (vgl. Buschkühle, 2009, S. 207).

 

Warum Kunstunterricht heute?

Wo und wie kann sich die Kunstpädagogik heute verorten und womit kann sie ihre Notwendigkeit begründen?

 

Im Kunstunterricht geht es um mehr als Kunst, es geht um die ästhetischen Erfahrungsprozesse der Kinder und Jugendlichen – in ihrem Wahrnehmen, Handeln und Denken. Ihnen diese Prozesse zu eröffnen, sie darin zu begleiten und selbstständig werden zu lassen, ist Praxis und Konzept des Kunstunterrichts (Kirchner, Otto, zit. n. Bauernschmitt, 2018 ).

 

Künstlerische Kunstpädagogik  steht zurzeit am Ende einer langen Entwicklung der Kunstpädagogik in Deutschland. An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gilt sie als Standard in der Ausbildung angehender Lehrer:innen, die die erlernte Methode oder eher gesagt Haltung an ihre zukünftigen Schüler:innen weitervermitteln sollen (vgl. Modulhandbuch Fach Kunst B.A., 2018,S. 128 ff.). Der Begründer der künstlerischen Kunstpädagogik in Deutschland ist Carl-Peter Buschkühle, zurzeit Professor an der Universität Gießen. Buschkühle spricht von einer Wende zum künstlerischen in der deutschen Kunstpädagogik (vgl. Buschkühle, 2009, S. 207). Ist das nicht absurd?  Wie kann Kunst an sich nicht künstlerisch sein? Ist es künstlerisch etwas abzuzeichnen? Ist es künstlerisch Aufgaben abzuarbeiten? Der Wandel in der deutschen Kunstpädagogik kam durch die Infragestellung des Vermittlungsparadigmas zustande, die kritisch in den Blick nahm, ob  Kunst überhaupt etwas ist, was vermittelt werden kann (vgl. ebd., S. 207 f.). Wie ist die künstlerische Kunstpädagogik aus den verschiedenen Strömungen hervorgegangen? Um das zu klären lohnt sich ein kurzer Blick in die Geschichte der Kunstpädagogik. Im folgenden findet sich ein kurzer historischer Abriss zu dem Thema, welches sich vorwiegend auf Vorlesungsinhalte der Dozentin Susanne Bauernschmitt bezieht. 

 

Kunstunterricht im Nationalsozialismus

Anhand des Kunstunterrichts im Nationalsozialismus lässt sich schnell erkennen, wie Kunstpädagogik ideologisiert werden kann. Kunst wurde als Propagandamedium für die nationalsozialistischen Ideologie genutzt. Kunst, die nicht in das Bild des Nationalsozialismus passte, wurde als „entartete Kunst“ diffamiert, beschlagnahmt und vernichtet. Für bekannte Künstler wie Paul Klee, Ernst Kirchner und George Grosz bedeutetet dies ein Berufsverbot. Kunsterziehung wurde auf Ideologie reduziert: Themen und Inhalte waren unter Anderem "Rasse", "Reinheit", "Gott und Nation". Im bildnerischen Arbeiten wurden Symbole, wie Hakenkreuze oder Pistolen genutzt um Schüler:innen damit vertraut zu machen. Individuelle-schöpferische Fähigkeiten hatten dort keinen Platz (vgl. Bauernschmitt, 2018).

 

Musische Erziehung

Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands herrschte eine große Unsicherheit. Es wurden neue Wertorientierungen gesucht. So fand ein Rückbezug zu den reformpädagogischen Ansätzen der frühen 1900 Jahre statt. Die daraus folgende musische Erziehung forderte eine Menschenbildung durch Selbsttätigkeit, Selbstausdruck und Selbstentfaltung durch Kunst und dennoch die Erziehung zu dem guten, allgemeingültigen Geschmack (vgl.ebd.). Die Lehrperson wurde als Gärtner:in angesehen, der:die möglichst wenig in den Bildungsprozess eingreift, um Selbstentfaltung zu ermöglichen. Dabei wurde alles nicht-kindgemäße von den Kindern ferngehalten – Kunstpädagogik war ein Schonraum, in dem nichts „schlimmes“ passieren durfte. Dabei wurde die gesellschaftliche Wirklichkeit aus dem Unterricht ausgeblendet und die ausgewählten Gegenstände des Unterrichts auf bestimmte Epochen und unhistorisches reduziert (vgl. ebd.). 

 

Formaler Kunstunterricht

Formaler Kunstunterricht in den 1960er Jahren schlug wiederum eine andere Richtung ein. In der sich rasant zum „Wirtschaftswunder“ entwickelnden Bundesrepublik Deutschland wurde Anschluss an die Industrienationen geschlossen, und damit einhergehend neue, hohe Bildungsstandards gefordert, um in der technisch-wissenschaftlichen Revolution mithalten zu können. Musische Bildung wird als veraltet angesehen. Die Kunstpädagogik kommt seitens der Wirtschaft in einen Legitmierungsdruck: Was bringt Kunstunterricht? Daraus entstand ein formaler Kunstunterricht, der Lernziele präzisiert, Lehr-Lernprozesse strukturiert und Unterrichtserfolg, sowie präzise Leistungsmessung als Ziele anstrebt. Der Kunstpädagoge Gunter Otto formulierte dazu klare Unterrichtskonzepte, in denen der Umgang von Kindern mit bildnerischen Problemen klar messbar wird.  Kunst wird somit systematisiert und in messbaren Lernschritten unterrichtet, inhaltliche und emotionale Freiräume blieben auf der Strecke (vgl. ebd.). 

 

Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens von Bildern (1987)

1987 tritt Gunter Otto wieder in das Licht der Kunstpädagogik. Doch im Laufe der Jahre hat sich seine Einstellung zu Kunstpädagogik maßgeblich verändert: von der starren Konzentration auf formale Aspekte der Kunst hat er abgewichen und eine Pädagogik entwickelt, die den Schüler:innen mehr Freiräume lässt. Ottos „Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens von Bildern" (1987) konzentriert sich auf die Wahrnehmung von Bildern, die verschiedenen Prozeduren im Zusammenhang mit Bildern (Machen, Sprechen, Sammeln), sowie das Verstehen von Bildern. Die gestalterische Praxis ist eng verbunden mit der Analyse von Werken und Kontexten (vgl. Otto, 1987,  S. 42 ff.). Buschkühle kritisiert in diesem Zusammenhang, dass Ottos Didaktik nur punktuell Raum für künstlerische Denk und Handlungsweisen lässt (vgl. Buschkühle, 2009, S. 208). 

Ein „Rivale“ Ottos, der einen gegensätzlichen kunstpädagogischen Ansatz vertrat, war Gert Selle mit seiner "Ästhetischen Bildung". Er forderte die Öffnung der Schule, größere Freiheiten bei Inhaltsbestimmung, Zeitgestaltung, Formen der Leistungsmessung, eine Konzentration auf den Prozess und nicht das Produkt. Während Otto sich eher als bildorientiert beschreiben lässt, ist Selle Kunstorientiert. Das Subjekt soll eigenständige Erfahrungen in selbstständig entwickelten Ästhetischen Projekten machen und somit die Eigenarten des künstlerischen Aufgreifens. Angelehnt an Beuys folgt ein solches Projekt diesem Muster: 

--> CHAOS Ausgangssituation

--> Freiraum für Experimente

--> Entwicklung eigener Vorstellungen und Vorgehensweisen

--> Einbindung von Wissen und Erkenntnissen

Diese Art des Arbeitens ist experimentell, ungewiss, fordert die Individuelle Kreativität heraus und ermöglicht Selbsterfahrung (vgl. Bauernschmitt, 2018). Das Problem ist, dass zu sehr die subjektive Erfahrung des ästhetischen Handelns im Vordergrund steht, während das spezifisch künstlerische Im Hintergrund rückt.  Es fehlt die inhaltlich-intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Thema. Zudem sind solche Projekte in der Schule schlicht nicht durchführbar (vgl. Buschkühle, 2009, S. 209 f.).

 

Die Fundamente der künstlerischen Kunstpädagogik

Wie landen wir also von diesen unterschiedlichen Kunstverständnissen zu einer künstlerischen Kunstpädagogik nach Buschkühle? Otto und Selle haben dazu wichtige Vorarbeit geleistet: Einerseits hat Selle klar die Kunst und das künstlerisch Schaffen jedes Lernenden in den Vordergrund gestellt. Otto brachte vor allem die gestalterische Arbeit in Zusammenhang mit inhaltlichen, intellektuellen, sowie künstlerischen Kontexten mit ein. Einen ersten Mittelweg scheint die "Ästhetische Forschung" von Helga Kämpf-Jansen zu sein, die in der Schule gut realisierbar ist. In der Ästhetischen Forschung stellt das Subjekt sich selbst eine Frage zu einem Thema mit dem es sich auseinandersetzen will. Das können die eigenen Gedanken, ein Gegenstand, eine Situation, Pflanzen, Tiere usw. sein. Diese Frage wird im Rahmen des Projekts mit Hilfe von Alltagserfahrungen, Kunst und wissenschaftlichen Zugängen erforscht (vgl. KulturForscher, 2013). Die "Produkte“ dieser Forschung sind Forschungsergebnisse, im Prozess dieser Erforschung sollen die Schüler:innen ästhetische Erfahrungen machen. Jedoch sieht Kämpf-Jansen die Forschungsergebnisse nicht als eigenständige Kunst an. 

Die künstlerische Bildung arbeitet so, wie die Ästhetische Forschung in Projekten an einer inhaltlichen Fragestellung. Im Gegensatz zur Ästhetischen Forschung steht jedoch der Gedanke im Vordergrund, dass Schüler:innen Kunstwerke erschaffen können. In der Auseinandersetzung mit einem Thema ist zudem ein inhaltlicher Erkenntnisgewinn sowie ein gleichzeitiges Erlernen von Methoden und Handwerkszeug möglich.

 

Künstlerische Bildung nach Carl-Peter Buschkühle

Die "künstlerische Bildung" nach Carl-Peter Buschkühle vertritt das Ideal der Persönlichkeitsbildung im Sinne einer ganzheitlichen Bildung (vgl. Buschkühle, 2017, S. 264). Sie steht in einem engen Verhältnis zur Lebenskunst, „als Herausforderung an das Subjekt in einer pluralen Gesellschaft“ (Buschkühle, 2003, S. 20). Zentrale Elemente dieser Bildung sind die Sinnlichkeit, Kontextualität und Imagination (vgl. ebd., S. 20). Künstlerische Bildung ist subjektorientiert – im Mittelpunkt stehen die Lernenden (vgl. ebd., S. 24, 36). Die künstlerische Bildung wird als eigene spezifische Kunstform aufgefasst. Kunstpädagogische Prozesse sind somit als künstlerische Prozesse zu verstehen (vgl. ebd., S. 19 ff., 32). Verengung auf bestimmte Gestaltungsformen und Beschneidung der intellektuellen Dimensionen der Kunst oder gar eine verstärkte Betonung auf den Verstehensprozess sind zu vermeiden (vgl. ebd., S. 32 ff., 37). Kunst bietet im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs die "Universalität der Aktivierung der Fähigkeiten“ (ebd., S. 20). Schüler:innen sollen als Künstler:innen ausgebildet werden. Ausgehend von Beuys sind Künstler:innen Menschen, die durch ihre geistige Beweglichkeit befähigt sind, der Wirklichkeit kritisch zu begegnen und ihr Leben und sich selbst autonom und selbstverantwortlich zu gestalten (vgl. ebd., S. 36).

 

Persönlicher Exkurs

Buschkühles künstlerisches Projekt folgt der Idee von Joseph Beuys

 

Chaos – Bewegung – Form (vgl. Buschkühle, 2017 S. 298 ff.)

 

In der Recherche zu meiner Bachelorarbeit durchlief ich genau diesen kreativen-konstruktiven Prozess. Von der ersten Idee, den ersten Skizzen kam ich zu ersten Einsichten, die dann im weiteren Verlauf meiner inhaltlichen Auseinandersetzung verworfen und wieder neu geordnet wurden. Bis nach einiger Zeit eine konkrete Form und ein Konzept meiner Arbeit entstand, aus der später die Kerninhalte meiner Bachelorarbeit geworden sind. Während dieses Prozess' lernte ich besser zu formulieren, musste mich mit Formatierung auseinandersetzen und tauchte tief das Thema ein. Ich bin mir sicher, jede:r hat ähnliche Prozesse  beim Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit bereits durchlebt. Als Musiker:innen kennt man diese Situationen auch im Musizieren: Von der ersten Songidee bis zur fertigen Produktion ist es ein langer, manchmal holpriger Weg, auf dem man viel neues Lernen kann.

Ich plädiere für eine künstlerische Bildung schließlich, die die im erweiterten Sinne verstandene künstlerische Tätigkeit, die produktive wie die rezeptive, als eine allen Menschen vermittelbare Basisqualifikation für ein menschenwürdiges, erfülltes und gelingendes persönliches Leben sowie für die Teilhabe an der Gestaltung der sozialen und kulturellen Verhältnisse begreift: Kunst und künstlerische Tätigkeit als eine ganz eigene Art produktiver Lebens- und Welterfahrung, Weltaneignung und Wirklichkeitsveränderung (Buschkühle, 2017, S. 265 f., zit. n. Regel, 2003, S. 122).


Literatur

Bauernschmitt, (2018). Einführung in die Fachdidaktik I – Vorlesung Sommersemester 2018.

 Buschkühle, C.-P. (2003). Konturen künstlerischer Bildung: Zur Einleitung. In: C.-P.Buschkühle (Hrsg.), Perspektiven künstlerischer Bildung (S. 19-44). Köln: Salon-Verlag.
Buschkühle, C.-P. (2009): Künstlerische Wende in der deutschen Kunstpädagogik. In: Buschkühle, C.-P., Kettel, J., Urlaß (Hrsg.), horizonte. Internationale Kunstpädagogik. Oberhausen: ATHENA

 Buschkühle, C.-P. (2017). Künstlerische Bildung: Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik (1. Aufl.). Oberhausen: ATHENA-Verlag.
 Erklärfilm: Ästhetische Forschung in der Schule (2013). Youtube- Video KulturForscher. Verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=RQ4Z2hdeRiQ [16.05.2020].
Otto, G. (1987).  Auslegen – Ästhetische Erziehung als Praxis des Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern. Seelze: Friedrich Verlag Velberg. S. 42 ff.
Pädagogische Hochschule Heidelberg (2018). Modulhandbuch B.A. Bildung im Sekundarbereich (Bezug Lehramt Sekundarstufe I) Fach Kunst (S. 128-136).