Künstlerisch Musizieren

Seidl – Verhältnisse ändern
Auf dem Weg zu einer künstlerischen Musiktheaterpraxis?

Hannes Seidl ist ein deutscher Komponist instrumentaler und elektronischer Musik. In Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Künstler:innen und Musiker:innen hat er Musiktheater und andere „genreübergreifende Formate“ gestaltet (vgl. Seidl, 2020). Gemeinsam mit Daniel Kötter sind mehrere Musiktheater entstanden: Unter anderem die im Artikel „Verhältnisse ändern“ beschriebenen „Ökonomie des Handelns“ mit den drei Teilen:  Kredit, Recht und Liebe (vgl. Seidl, 2020; Seidl, 2019, S. 52 ff.).  Im Weg-Protokoll habe ich meine ersten Eindrücke zu den Musiktheaterstücken in Form eines "Stream of Consciousness" zusammengefasst. In dem Artikel "Verhältnisse ändern" beschreibt Seidl die Überlegungen und konkrete Umsetzungen zu einem modernen Musiktheater, welche in den Ökonomien des Handelns durchgespielt werden. Maßgeblich prägend für die Stücke ist die Idee inhaltliche, gesellschaftliche Verhältnisse, also die Themen des Theaterstücks in Beziehung mit seiner formalen, äußerlichen Form zu bringen. Folglich die Verhältnisse der Medien so auf den Inhalt abzustimmen, dass formale Parameter des Theaters, wie zum Beispiel Raum, Zeit, Musik und Text eine inhaltliche Bedeutung erlangen (vgl. Seidl, 2019, S. 52 ff., 66). 

 

Die Form der Stücke rahmt nicht nur, sie produziert ihre jeweils eigene, spezifische Aussage. Erst wenn diese gemeinsam mit dem Stück entwickelt wird, kann ein Musiktheaterereignis entstehen, das nicht einfach nur etwas darstellt, sondern etwas herstellt: eine Zeiterfahrung, die die Möglichkeit eröffnet, Verhältnisse zu ändern zwischen Bild und Ton, Sehen und Hören, zwischen Menschen (Seidl, 2019, S. 66).

 

Traditionelle Musiktheatererfahrung, Symbole und Codes der Rezeption und Verhaltensnormen werden somit durchbrochen. In Ihren Musiktheaterstücken wird deshalb mit den verschiedenen Parametern des Musiktheaters experimentiert. Zum Beispiel kann der Raum des Theaters verschoben oder aufgelöst werden. Das zeigen Seidl und Kötter in ihrem Stück „Land (Stadt Fluss)“. Das Publikum sitz nicht, wie gewohnt auf Stühlen in einem festgelegten Zuschauerraum. Sie legen sich vor eine große Leinwand, auf der ein Video abgespielt wird, auf eine Wiese. Das Video zeigt eine Gruppe von Menschen, die vor einem Bauernhof gemeinsam arbeiten und Zeit miteinander verbringen. Zwischendurch werden Interventionen durch verschiedene AkteurInnen vor der Leinwand getroffen, wie zum Beispiel Blechbläser, die eine Melodie spielen (vgl. Seidl, 2019, S. 62). Seidl beschreibt dies als eine „Verlängerung des Aufführungsraums“, in denen das Bühnengeschehen teilweise synchronisiert wird. So wird beispielsweise im Film und auf der Bühne, also in beiden Räumen, gekocht und das Publikum bekommt gleichzeitig ebenfalls etwas zu Essen serviert. Teilweise stehen Bühnengeschehen und Filmgeschehen nicht in Verbindung und laufen nebeneinander her (vgl. ebd., 2019, S. 60 ff.).

 

Diese Praxis des modernen Musiktheaters enthält Elemente und Gedanken, des künstlerischen, wie sie auch bei Buschkühle, aber auch bei Beuys und anderen Künstler:innen vertreten werden. Seidl stellt einen Zusammenhang zwischen der Frage: Welchen Erfahrungsraum wollen wir [in der künstlerischen Form des Musiktheaters] herstellen? Und der Frage Wie wollen wir leben? her. In ihren Musiktheaterstücken, Kurzfilmen oder Hörspielen sind sie diesen Fragen nachgegangen und haben versucht Ideen und Gedanken an das Publikum zu vermitteln. Die Beantwortung der Fragen zeigt sich nicht nur in der inhaltlichen Gestaltung der Stücke, sondern auch in der formalen, äußerliche Gestaltung. Seidl beschreibt diese Form des Musiktheaters als experimentell und forschend darüber, „welche Strukturen Aussagen treffen könnten“ (Seidl, 2019, S. 53). So ist die Anwesenheit von Musik im Theater nicht dadurch gerechtfertigt, dass Musik nunmal ins Musiktheater gehört – nein. Sie muss eine sinnvolle, inhaltliche Aussage beinhalten (vgl. ebd., S. 53). 

 

Für mich weisen diese Elemente einen klaren Bezug zur Lebenskunst nach dem Philosophen Wilhelm Schmid auf. Die Philosophie der Lebenskunst ist das Fundament der künstlerischen Bildung. Hauptanliegen des philosophischen Konzepts der Lebenskunst ist die Hinführung zu einem gestalterischen Selbst- und Weltverhältnis (vgl. Schmid, 2003, S. 51). Das Material dieser Lebenskunst ist das Leben selbst. Die Kunst fungiert als Gestaltungsprozess, eine Technik, um durch ein Objekt am Material des Lebens zu arbeiten. Schmid behauptet, dass durch die Ausbildung gestalterischer Fähigkeiten eine Idee vom Umgang mit dem Leben entsteht (vgl. ebd., S. 47, 51). „[D]ie Arbeit am äusseren Material ist zugleich die Arbeit des Selbst an sich und dem eigenen Leben, gemäss [sic] der alten lateinischen Formel "fabricando fabricamur": ,Durch unser Gestalten erhalten wir selbst Gestalt‘“ (ebd., S. 51). Das Werk dieser Kunst bleibt unvollendet und fragmentarisch (vgl. ebd., S. 47). Die Ausübung der Lebenskunst zielt auf die Befähigung zu einem bewussten Leben ab. Konkret gemeint sind damit die Aneignung von Fähigkeiten zur eigenen reflexiven, selbstbestimmten Lebensgestaltung und dem Erlernen von Selbstmächtigkeit, um „resistent gegen Versuche zur Enteignung des eigenen Lebens zu werden“ (ebd., S. 51). Schmid spricht vorwiegend von produktiver Tätigkeit, doch auch Rezeption ist ein wichtiger Teil zur Ausübung dieser Lebenskunst (vgl. ebd., S. 51). Im weiterdenkenden Modell der künstlerischen Bildung sieht Buschkühle in der Rezeption von Bildern das Potential der Erfindung von Wirklichkeit, „wenn Schülerinnen und Schüler Bilder rezipieren, in unterschiedlichen Formen analysieren und diskutieren und daraus neue Erfahrungen, Vorstellungen und Erkenntnisse gewinnen“ (ebd., S. 294). Dadurch werden differenzierte Wahrnehmungsleistungen, selbstständige Bedeutungserzeugungen sowie imaginatives, visionäres Denken eingeübt, die als Hauptanliegen der künstlerischen Bildung gelten. Diese Fähigkeiten schulen laut Buschkühle die Positionierungsfähigkeit des Individuums und wirken über den Bereich der künstlerischen Arbeit hinaus (vgl. Buschkühle, 2003, S. 36; vgl. Schmid, 2003, S. 48 ff.).

 

Aufgabe im Seminar: Beziehen Sie den Text auf die Videos von Kötter/Seidl: KREDIT / RECHT / LIEBE. Wie verändert sich ihr Zugang zu den Videos nach der Lektüre?  

Sind die neuartigen Musiktheaterstücke von Hannes Seidl und Daniel Kötter wegweisend für eine künstlerische Musikpraxis, die sich an Idealen und Methoden der künstlerischen Bildung bedient? Für mich scheint es, als bewegten sie bereits ein Schritt in diese Richtung. Nach dem Lesen des Textes erklärt sich die künstlerische Intention des Ökonomien des Handelns von Kötter und Seidl. Seidl und Kötters Ansatz alles, was im Musiktheater passiert, mit Inhalt verknüpfen zu wollen, fand ich allerdings etwas schwierig. Wie im echten Leben auch dürfen Situationen auch einfach völlig sinnlos sein, dies verschließt jedoch keinen Weg zur Erkenntnis. Im Gegensatz zu meinem ersten Eindruck der Stücke im Stream of Consciousness wirkten die Theaterstücke im nachhinein sehr vermittelnd, auf einen Bestimmten Gegenstand oder Gedanken hinarbeitend (vgl. Seidl, 2019, S. 53). Sie stellen sich die Frage „Wie wollen wir Leben?“ – doch wer beantwortet die Frage? Die Produzenten des Musiktheaterstücks oder das Publikum? Buschkühle argumentiert klar für die Aneignung selbsterdachter Themen durch selbsttätiges Handeln (Produktion und Rezeption). Beide Formen haben meines Erachtens nach eine Daseinsberechtigung. Für den Bereich der Bildung finde ich es jedoch besser Inhalte selbst zu erarbeiten und zu diskutieren.

Ökonomien des Handelns: Recht

In meinem Stream of Consciusness waren die Assoziationen zu dem Video mein sehr präsentes Seminar zu Hegel, das Thematisieren von Grenzen, die Trennung von Natur und Stadt.

Interessant find eich hier die Wechselwirkung zwischen dem Video und dem Geschehen auf der Bühne. Einerseits hat die Musik eine Art "Kommentarfunktion", manchmal tauchen klangliche Objekte (Radio, Instrumente) in dem Video auf und kreieren so interessante Überschneidungsmomente der zwei getrennten Medien. Die Musiker:innen auf der Bühne vertonen das Videogeschehen, auf dem eigentlich der Fokus liegt. Die Musiker:innen sind selbst Akteur:innen des Videos. Das verrückte Verhalten der Musiker:innen (Spielhaltung, Aussehen usw.) lenkt vom Fokus des Videos ab. Für mich wirkt es so als würde das Video Geschehenes aus der Vergangenheit zeigen, die Musik stellt eine Art Reflexionsprozess dar. 

 

Ökonomien des Handelns: Kredit

In meinem Stream of Consciousness beziehe ich mich Wiedermals auf Grenzen. dieses Mal verstärkt auf den zeitlichen Aspekte, aber auch den Aspekt des menschlichen Verhaltens war für mich sehr präsent. 

In dem teil der Trilogie handelt sich um die Vertonung eines Films. Das Stück  behandelt das Zeitverhalten. Ich finde es sehr überladen, schrill und übertrieben. Vor allem nach der Lektüre kommt mir auch dieser Teil sehr bedeutungsschwanger und auf einen bestimmten Punkt hinaus vor. Man merkt natürlich, dass die Regisseure, sich extrem eingängig mit dem Thema Finanzmarkt beschäftigt haben, das Stück ist sozusagen ihr Produkt hier künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Es mach die Absurdität und Komplexität des Finanzmarktes deutlich. 

 Ökonomien des Handelns: Liebe

In meinem Stream of Consciousness habe ich mich auf das Element Wasser eingelassen und bewege mich auch Kreisförmig sozusagen "im Fluss". 

Hier finde ich die Botschaft etwas plakativ und oberflächlich. Natürlich kann Liebe mehr sein, als eine zweier Beziehung. Interessant ist, dass die eigentliche Performer:in das Eis ist, welches die Instrument zum Klingen bringt. Dies passiert durch die Inszenierung einer Person, die im Video durch eine Schneelandschaft läuft. Kann man da jetzt reininterpretieren, dass Liebe etwas ist, was einem einfach passiert? So wie die Instrumente einfach so vom Wasser in Bewegung gebracht werden? Ist Liebe, so wie die Aggregatzustände veränderbar? Oder soll Liebe in dem Zusammenhang meinen, dass man, wie der Performer einsam auf einen Fjord zuläuft und dann runterspringt? Seidl und Kötter erklären hier wieder die intendierte  Botschaft des Stückes, ich finde es ein bisschen übertrieben. Mit fehlt es hier generell an Bedeutungsoffenheit. Mit fehlt das richtige Wort, irgendwie ist es so "überinszeniert". Das Aufheben des Bühnen- und Publikum-Raums finde ich sehr gelungen, durch die Nebelmaschine und das Anbieten von Eis. So schaffen sie eine Atmosphäre der Begegnung. Vielleicht soll das ja die Brücke über den Ford darstellen, wer weiß?

Literatur

Buschkühle, C.-P. (2003). Konturen künstlerischer Bildung: Zur Einleitung. In C.-P. Büschkühle (Hrsg.), Perspektiven künstlerischer Bildung (S. 19-44). Köln: Salon-Verlag.

 

Buschkühle, C.-P. (2017). Künstlerische Bildung: Theorie und Praxis einer künstlerischen Kunstpädagogik (1. Aufl.). Oberhausen: ATHENA-Verlag.

 

Schmid, W. (2003). Schule der Lebenskunst. In C.-P. Büschkühle (Hrsg.), Perspektiven künstlerischer Bildung (S. 47-58). Köln: Salon-Verlag.

 

Hannes Seidl Homepage (2020). About. Verfügbar unter: http://www.hannesseidl.de/about/ [16.05.2020]. 

 

Seidl, H. (2019) Verhältnisse ändern – Entwurf eines zeitgenössischen Musiktheaters. In J.P.  Hiekel, (Hrsg.), Erkundungen. Gegenwartsmusik als Forschung und Experiment. Darmstadt: Veröffentlichungen des Instituts für neue Musik und Musikerziehung (S.52-67). Darmstadt: Veröffentlichungen des InMM.